An Freitagen schließe ich mich der Arbeiterklasse mit den sekundengenau regulierten Arbeitszeiten ausnahmsweise einmal an und beende meine Tastatursinfonie pünktlich um 14:00 Uhr. Zumindest gebe ich das an, wann immer mich besorgte Blicke fragen, wie viele Überstunden ich hätte. Auf diesem Wege versuche ich, eine frühzeitige und völlig unnötige „pro-Forma“-Burnout-Einweisung in ein schickes Gebäude mit Menschen in weißen Mänteln zu umgehen und schlage mich damit ganz gut durch.
Den letzten Entspannungskick hole ich mir dann in der Straßenbahn. Für Personen, die auf unfreiwillige Impro-Comedy stehen, empfehle ich anstelle von Theater oder TV stets die (auch noch viel günstigere!) Straßenbahn. Ich kenne keinen Ort, an dem die Kulturen noch härter und oft auch wortwörtlich aufeinander klatschen als diesen. Akustisch formuliert: Es ist wie eine Walgesangsorgie an Land. Besonders zu jener Uhrzeit an einem Freitag.
Freitag 14:06: S2 Richtung Ringelberg.
Akt1: Umstieg Anger in die S5 Richtung Zoopark, Erfurt. Bühne frei für Gerlinde und Hermann.
Die Bahn ist mäßig gefüllt, die Sonne scheint durch die verschmierten Scheiben der StraBa und ein paar Kids entdecken gerade, dass sich das wackelnde Bahnabteil super zum Fangen-Spielen anbietet. Auf einem Zweier-Platz sitzt ein älterer Herr neben einer ebenso gut erhaltenen älteren Dame. Beide haben sich an diesem Tag dazu entschieden, die Farbpalette unterschiedlicher Beige-Töne voll auszukosten und verziehen trotz des gewagten Outfits keine Miene. Während der Herr mit einem bewundernswert meditativen Blick vor sich hin starrt, beobachte ich die ältere Dame beim Mustern einer dreiköpfigen Clique von Teenies.
Akt 2
Bereits nach wenigen Minuten verspürt sie offensichtlich den Drang, ihrem, wie sich nun herausstellt, Mann ihre Beobachtung mitzuteilen. Als dieser auch nach mehrmaligen Antippen nicht aus seiner Meditation erwacht, flüstert sie mit einer sehr rauen und kaum erkennbaren Stimme seinen Namen. Die besondere Art des lauten Flüsterns verbuche ich hierbei unter den besonderen Erfahrungswerten, die dieses Pärchen mit sich zu bringen scheint. Nach dem dritten, nun doch wirklich sehr lauten „Häärrmann“ reagiert eben dieser sichtlich genervt mit „Härrgott, Gäärlindö. Wos is‘n?“.
Gerlinde erhebt den Zeigefinger ihrer auch noch recht gut erhaltenen Hand und zeigt auf die Gruppe, die sie nach zweiminütiger Musterung besser zu kennen scheint, als jede Krankenschwester, die wirklich noch gelernt hat, was Musterung bedeutet. „Gugge mal, Härrmann. Dos sin‘ diese Flüchtlinge, von denne alle rääden.“, flüstert sie in gewohnt lauter Stimmhärte. Herrmann, nun sichtlich wieder auf dieser Welt angekommen, reißt die Augen auf und scheint trotz Richtungshilfe seiner Frau die Orientierung auf den geschätzten zehn Quadratmetern vor ihm verloren zu haben. In hektischen und kurzen Blicken scannt er sein direktes Umfeld, um dann nochmals seine Frau in gewohnt lauter Flüsterstimme zu fragen, wen sie nun meinen würde. Gerlinde, nun etwas energischer, zeigt erneut auf die Gruppe junger Männer, die natürlich diese laute Flüsterei nicht überhören konnten und nun sichtlich amüsiert auf den nächsten Akt warten.
Akt 3: „Von Wäiter Wech“
Hermann scheint verstanden zu haben, um wen es geht und kommentiert diese Erkenntnis mit „Ach jo, stramme Burschen. Wor ja auch ein wäiter Wech.“. Wenige Minuten wird die Gruppe nun von beiden eindringlich weiter gemustert, bis Hermann seine nächste Erkenntnis bekanntgibt: „Haben aber ordentlische Klamodden an. Keene Löscher drin.“ Worauf Sie sagt: „Ja nun, Härmann, de haben se ja auch selber jenäht. Hier bei KIK oder so. Sieht man jo im Fernsehen, wie die arme Kinder in Indien oder Schina, oder wo och immer do drüben, dafür arbeeten müssen.“ Er nickt mit Bedacht und brüll-flüstert weiter: „Sowas hatten wir jo damals net.“ Sie schüttelt in zustimmender Weise den Kopf: „Nur des, was wir anhadde. Mehr net.“ Für den Fall, dass der Straßenbahnführer ihn nicht verstehen kann, hebt er abermals seine Stimme und führt seine Erkenntnistheorie weiter aus: „Diese Arbeeter können wir hier aber jut jebrauchen. Müssen nur erst jebildet werde.“
Gerlinde stimmt zu „Noar, de werden jetzt erstmol Schreiben und Lesen lernen. Sowas hoben die bestimmt net jelernt in diese Fabriken und schon gor net im Kriech“.
„Wos dos widda den Stoot koostät.“, gibt Hermann zu bedenken. „Da dürfen wür Stoierzohler wiedo blääschen. Und donn nähmn se uns noch die Orbeiitsblätze wech.“, erkennt Göörlindä, die Räääntnorin. Ob sie sich jemals auf einen Arbeitsplatz bewerben musste, bleibt an dieser Stelle unbeantwortet. Von welchen Arbeitsplätzen sie nun redet, ist mir auch nicht klar. Muss sie in ihrem hohen Alter noch arbeiten? Kann sie sich vielleicht deshalb nur Klamotten in beigem Farbton erlauben? Fragen über Fragen. Keine Antworten. Ich bin betrübt. Würde gerne lachen, weiß aber nicht mehr, ob es noch angemessen ist.
Akt 4: Das Ende ist nah…
Die Jungs, um die es eigentlich geht, lachen noch immer. Immerhin.
Ilversgehofener Platz. Die Bahn rattert gewohnt ungemütlich an die Haltestelle heran. Kacke. Mein Ausstieg hätte drei Stationen vorher erfolgen müssen. Spannendes Programm erfordert drastische Maßnahmen.
Akt 5: Lächeln
Die drei Jungs fangen an zu tuscheln, während die Bahn wie erwartet, aber trotzdem plötzlich mit einem starken Ruck anhält. Die zwei „Fang mich doch“-Kids simulieren (endlich) einen waagerechten Wurf wie im Physikunterricht. Die Jungs gehen mit dem strahlendsten Lächeln zu Görlindä und Häärmann und verabschieden sich gemeinsam von dem Ehepaar mit „Tschüss. Schönes Wochenende Ihnen!“.
Na, wenn das mal kein akkurates Hochdeutsch war. Görlindä und Häärmann bleibt der Mund offenstehen. Die Jungs waren wohl wirklich nicht von hier.
Vielleicht kamen sie aus Hannover…
Öndä
Hast du so etwas auch schon mal erlebt? Lass mir einfach deinen Senf und Link zu deiner Straba-Fahrt da.
Quellen:
Bild 1: pexels.com // unsplash.com CC0-Lizenz
Bild 2: pexels.com // unsplash.com CC0-Lizenz
3 Kommentare
Oh man, das geschah den beiden aber Recht! Ich hatte Spaß beim Lesen!
Das ist ja irgendwie noch ganz putzig und witzig, leider erlebt man sowas und Schlimmeres einfach ständig.
Mein letztes Erlebnis war eine Dame, die durch die ganze Straßenbahn lief und um Hilfe schrie, Hilfe vor den ganzen Ausländern und Verbrechern in der Straßenbahn. Die dann zu einer blonden Frau ging und sie sogar am Arm schüttelte: Wir müssen etwas dagegen tun!!! Helfen Sie mir. Überall Ausländer!
Vor allem der Lärmpegel der Frau lies erahnen, dass sie tatsächlich dringend Hilfe benötigt- psychischer Art.
Das ist leider kein Einzelfall. Da war auch einmal ein Mann, der mit einem zugeklappten Taschenmesser herumfuchtelte und eine Frau mit zwei kleinen Kindern mit ähnlichen Parolen anschrie.
Dann war da noch eine Frau, die sich mit einem jungen Mann unterhielt, der auch ausländisch aussah. Sie sagte: Womit ich nicht einverstanden bin, ist ihr Umgang mit Frauen. Sie sehen aus, wie jemand der auf Partys geht und Frauen als Ware behandelt und sie für ihre Leistungen bezahlt. Das haben Sie sicher nicht anders gelernt, da wo sie herkommen.
Ja, sagte der Mann, ich komme nämlich aus XY. Er nennt eine kleine Stadt, die gleich um die Ecke ist.
Der Hass ist an manchen Tagen unerträglich.
Besonders in Bus und Bahn bekommt man das zu spüren.
Ich versteh überhaupt nicht wie manche Menschen soviel Energie für Hass aufbringen können.
Hahaha! Sehr amüsant! Ich fahre jeden Tag S-Bahn, aber da passiert nie was. Immer die gleichen Leute und bis auf eine (die wirklich ne laute und durchdringende Stimme hat), sind so ziemlich alle ruhig… Langweilig halt. Aber schön dass du wenigstens Spaß beim pendeln hast! 😛